Führen in Organisationen: Wie muss man sich den Übergang von «klug» zu «unklug» vorstellen?

Jüngst haben mehrere Whistleblowings für Aufsehen gesorgt. Welche systemischen «Zutaten» braucht es, damit es zu solchen Vorfällen kommt? Aus unserer Warte als Beratende und Forschende spannend, hier aus systemischer Sicht draufzuschauen. Letzter Teil.

Im 2. Teil haben wir uns dem Thema der Scheinheiligkeit und der Komplizenschaft gewidmet. Mit dem Fazit: Eine clevere Mischung von Formalität, Informalität und Scheinheiligkeit erlaubt eine «kluge» Handhabung «brauchbarer» Regelbrüche, das Risiko aber besteht, dass der Boden «klugen» Handelns verlassen wird. (2. Teil nachlesen)

Nun im 3. und letzten Teil widmen wir uns der Frage, wie man sich diesen Übergang von «klug» zu «unklug» vorstellen muss?

In den meisten Fällen wohl mehr als ein Hineinrutschen, denn als klare Absicht.

Bemühen wir das bereits im 1. und 2. Teil genutzte Beispiel von VW ‘s «Dieselgate». Klar ist: Irgendwie, irgendwann, irgendwo wurde es unethisch, ja kriminell. Das Management machte massiven Druck, Kritisches durfte nicht gesagt werden, Angst herrschte. Ausweichstrategien waren gefragt. Das mixt sich zu toxischen Tinkturen.

Irgendwie, irgendwann, irgendwo wurde es unethisch, ja kriminell.

Ist eine solche Situation unbekannt in Spitälern? Sicher nicht. Kann es sein, dass da was unethisch ist? Möglicherweise, aber der Mann ist gut, er bringt Erträge, er verkauft sich nach aussen, der Laden brummt. Alle profitieren, die Klinikkultur erlaubt kein «speaking up», dem Kollegen spricht man sowieso nicht drein, der betriebswirtschaftliche Druck ist hoch und wird immer höher …

Von aussen betrachtet, braucht es wohl mindestens drei Ingredienzen zum Hineinschlittern in eine solche Situation:

1) Widersprüchliche Erwartungen
2) Druck und Stress
3) eine Kultur, die kritische Fragen entmutigt und die durch Angst und Abhängigkeit gekennzeichnet ist.

Organisationen haben per Definition widersprüchliche Erwartungen zu integrieren: Spitäler sollen ausgezeichnete Patientenversorgung gewährleisten, betriebswirtschaftlich glänzen, äusserste Sorgfalt in ihren Routinen pflegen und gleichzeitig Neuerungen vorantreiben und sowieso effizient sein. Ausserdem sollen sie ethischen Anforderungen entsprechen, einer immer kritischen Öffentlichkeit standhalten und politisch Freude bereiten.

Widersprüchliche Erwartungen führen zu Stress.

Das alles bedeutet Widersprüche, mit denen umzugehen ist. Genau dafür sind Organisationen da. Unproblematisch ist das, wenn genügend Puffer vorhanden sind. Schwieriger, wenn die Verhältnisse enger werden, der Druck auf die Beteiligten steigt, sich die Erwartungen akzentuieren und der Stresslevel ansteigt.

Die Managementlehre tut gerne so, wie wenn widersprüchliche Erwartungen in Form von Priorisierungen abgearbeitet werden könnten. Das ist – pardon – Bullshit. Oder höflicher ausgedrückt, eine nützliche Illusion.

Widersprüchliche Erwartungen priorisieren? Bullshit!

Denn:

  • Wenn ich als Arzt forsche, kann ich nicht gleichzeitig Dienstleistung machen.
  • Wenn ich Assistenten betreue, kann ich nicht gleichzeitig so effizient sein, wie wenn ich Kaderärzte einsetzen würde. Wenn ich patientenorientiert behandeln will, kann ich vielleicht nicht alle formalen Regeln befolgen.
  • Wenn ich Innovationen ausprobiere, gehe ich eventuell Risiken ein.
  • usw.

Keine Anweisung, keine formale Struktur kann diese Widersprüchlichkeit auflösen. Keine einfache Sache also.

Wie wirkt man den drei toxischen Ingredienzen entgegen?

Die deutschsprachige Medizin hat ein organisatorisches «Format» zur Lösung des Problems erfunden: den Chefarzt bzw. den Klinikdirektor. In einer Person wurde die ganze Widersprüchlichkeit von Klinik, Lehre und Forschung gebündelt. Der Preis der Bündelung war das Zugeständnis von Willkür. Der Chefarzt (ursprünglich lauter Männer …) entschied, wer was macht, wer klinisch tätig ist und wer Freiheit zum Forschen hat usw. Ein raffiniertes Modell. Diese Möglichkeit der Willkür wird immer problematischer je akzentuierter die widersprüchlichen Erwartungen auftauchen, bis sie schliesslich an, wenn nicht gelegentlich über die Überforderungsgrenze bringen.

Was strukturell nicht aufgelöst werden kann, muss prozessiert werden. Solche Prozesse sind Kriterien der Transparenz und der Fairness anders unterworfen als es die «Blackbox Chefarzt» je geboten hatte, und sie verschliessen sich gegenüber Hierarchisierungen.

Nicht umsonst ist die Hamburger Martini-Klinik auf Transparenz und gleichgestellte Fakultäten gebürstet. Da gibt es einen Sprecher nach aussen, aber keinen Chef nach innen. Nur schon das Prinzip der untereinander transparenten Qualitätsdaten verträgt sich nicht mit Hierarchisierung, begünstigt aber dafür Lernen und Verbesserung der Ergebnisse, wie es selten sonst zu sehen ist.

Weiter kann auch das Prinzip der «psychologischen Sicherheit» (Edmondson 2019) unterstützen und die Hierarchie zu anderen Formaten zwingen. Und diese Formate werden in Modellen einer «collective leadership» zu suchen sein. Dazu wäre die Diskussion zu suchen, dazu wäre organisatorische Fantasie gefragt, dazu wären Experimente einzuleiten. Nur so geht Lernen. Nur so geht Innovation.

Aktuelle Kurse für den reflektierten Umgang mit Führung:

No Bullshit: Wirksam Führen
– Datum: 8./9. Februar 2021 | Bern
– Mehr auf college-m.ch

CAS Leadership in Health Care Organisations
Start: Januar 2021 | 6 Module à 3 Tage | Universität Bern
Mehr auf www.cas-leadership.ch

Literatur
Kühl, Stefan. Brauchbare Illegalität. Campus 2020
Elad N. Sherf , Subra Tangirala and Vijaya Venkataramani, Why Managers Ignore Employees’ Ideas. Hbr.org. April 08, 2019