Führen in Organisationen: Nützliche Scheinheiligkeiten? Komplizenschaften?

Jüngst haben mehrere Whistleblowings für Aufsehen gesorgt. Welche systemischen «Zutaten» braucht es, damit es zu solchen Vorfällen kommt? Aus unserer Warte als Beratende und Forschende spannend, hier aus systemischer Sicht draufzuschauen. Teil 2.

Wir haben das Kind in unserem ersten Blog-Beitrag bereits beim Namen genannt: Funktionierende Organisationen brauchen sowohl Formalität wie Informalität. Informalität erlaubt nicht zuletzt, die Dinge «klug», manchmal einfacher, manchmal individueller, manchmal «auf dem kleinen Dienstweg» zu erledigen. Das bedeutet ein Abweichen von formalen Vorgaben – aber durchaus zugunsten einer guten Aufgabenerfüllung. Es gibt daher eine «brauchbare Illegalität» in Organisationen (Kühl 2020). Organisationen funktionieren nun mal mehr in «shades of grey», denn in schwarz/weiss-Unterscheidungen. Zu komplex ist die Welt, mit der sie sich herumschlagen müssen. (Teil 1 nachlesen)

Offiziell sind solche Abweichungen natürlich nicht gestattet.

Darum kommt eine dritte Dimension ins Spiel, nämlich das Bestreben von Organisationen nach aussen hin – gegenüber Patient*innen, Politik, Medien – positiv dazustehen. Die Fassade soll nicht durchbrochen werden. Die Organisationsforschung spricht hier von der nützlichen «Scheinheiligkeit» von Organisationen (Quelle: N. Brunsson).

Scheinheiligkeit kann nützlich
sein.

Was klar ist: «Shades of grey» berechtigen nicht zu ethisch fragwürdigem oder Patienten schädigendem Verhalten. Solches ist anzuzeigen. Und wenn alle Dienstwege versagen, hat Whistleblowing eine wichtige Funktion.

Typischerweise wird dann jedoch personalisiert, ein «Einzeltäter» ausgemacht. Der kann ausgeschlossen werden, Besserung tritt ein.

Nur kurz wird diskutiert, ob Führung, das Management nicht hätte sehen müssen, was da «schief» lief. Aber das geht bald vorüber. Zu undurchsichtig das Ganze, zu uferlos, zu wenig auf Personen zurechenbar. Das System, das möglicherweise gestützt, vielleicht sogar ermutigt hat, Regeln zu brechen, kommt ungefragt davon. Lernen findet nicht statt.

Personalisierung ist – darüber ist sich die Organisationsforschung einig – eine hilfreiche Praxis, um systemische Zusammenhänge im Dunkeln halten zu können. Denke man nur an den Wirecard-Skandal oder das «Dieselgate» von VW in Deutschland. Beide exemplarisch für die manchmal prekäre Mischung von Formalität und Informalität.

Personalisierung verhindert Lernen und verschleiert systemische Zusammenhänge.

Selbstverständlich gab es bei VW nie einen formalen Auftrag eine Software für Abgasbetrug zu entwickeln. Aber gegeben hat es diesen Betrug nur, weil viele mitgespielt haben und sich in die Kultur des Unternehmens und der Branche eingebunden fanden. Das Gegenüber des Whistleblowers ist darum die Komplizenschaft. Aber über die schweigt man gerne. Denn hier wird es ganz schnell ganz heikel.

Nur die clevere Mischung von Formalität, Informalität und Scheinheiligkeit erlaubt eine «kluge» Handhabung «brauchbarer» Regelbrüche.

Wie muss man sich den Übergang von «klug» zu «unklug» vorstellen?

Davon dann mehr im Teil 3 …

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