Welche Ärzt*innen braucht es in Zukunft? – Teil 1

Gemäss OECD-Statistiken hat die Schweiz eine der höchsten Dichten von Ärzt*innen und anderen Gesundheitsfachleuten im Verhältnis zur Bevölkerung. Gleichzeitig gibt es Unter- als auch Überversorgung und unterschiedliche Attraktionen von Fächern für den Nachwuchs (etwa in der Psychiatrie oder der Hausarztmedizin). Bislang konnte man mit diesen Schieflagen leben. Mit einer Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen – meist verkürzt unter dem Titel «Fachkräftemangel» firmierend – wird die Situation jedoch deutlich prekärer und es stellt sich vehement die Frage, welche Ärzt*innen in Zukunft gebraucht werden.

Beschleunigt durch die Pandemie kommt es zu erheblichen Veränderungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt mit einem historischen Höchststand an unbesetzten Stellen, insbesondere in Dienstleistungsberufen. Nebst den Schulen, der Gastronomie, oder der Krankenpflege ist davon auch der medizinische Bereich betroffen.

Dafür gibt es vier Erklärungen:

  1. Immer weniger Menschen wollen Vollzeit arbeiten. In einer Umfrage, die wir im Auftrag des BAG im Jahr 2019 (also vor der Pandemie) unter den letzten beiden Jahrgängen der Fachtitel-Erwerbenden der inneren Medizin, der Psychiatrie, der Chirurgie und der Ophthalmologie durchführten, gaben lediglich 18 % an, in Zukunft Vollzeit arbeiten zu wollen.
  2. Viele ausländische Arbeitskräfte sind während der Pandemie in ihre Heimat zurückgekehrt.
  3. Die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge 1946 – 1964 scheiden zunehmend aus dem Erwerbsleben aus.
  4. Viele Dienstleistungsberufe sind offenbar nicht mehr attraktiv oder sicher genug.

Die Medizin in der Gesellschaft der Zukunft?

Spannungsfelder

Der Arztberuf ist eingebettet in gesellschaftliche und gesundheitssystemische Dynamiken, weshalb Überlegungen zur Zukunft des Arztberufes von der Frage ausgehen müssen: Wie sehen die Gesellschaft und die Versorgung der Zukunft aus?

Dabei zeigen sich mehrere Spannungsfelder: Machbarkeitswünsche, Vertrauensverlust, unklarer werdende Wahrheitsregeln, Konsumhaltungen, Autoritätseinbussen, sich akzentuierende Symmetrieerwartungen, Angebotsausweitungen, ökonomische Limitierungen wie Potenziale, sowie juristische und ethische Fragen.

Vielfalt in der Versorgung

Die Erwartungen der Gesellschaft an Pflege und Medizin sind äusserst vielfältig, spannungsgeladen und teilweise widersprüchlich. Diese Spannungen und Widersprüche werden umso deutlicher, je breiter das Feld der Medizin wird, je mehr Lebensbereiche betroffen werden.

Das Leben und Verhalten der Menschen gerät immer mehr in den Einflussbereich der Medizin, wie exemplarisch die Reproduktionsmedizin, die Ausweitung von Gen-Analysen, die Betreuung chronischer Krankheiten oder Palliativsituationen zeigen. Umgekehrt ist die Medizin auch mehr denn je mit individuellen und gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert. Patient*innen werden ihrerseits anspruchsvoller, Erwarten mehr und streuen breiter hinsichtlich ihrer Einstellungen.

Es ist davon auszugehen, dass diese zentrifugale Dynamik mit einer hohen Vielfalt an Erwartungen, Ansprüchen, Werten und Forderungen, verbunden mit höchst anspruchsvollen Integrationsprozessen, anhalten bzw. sich weiter verstärken wird. Spürbar wird das auch beim eigenen Personal. Profession wie Gesundheitsorganisationen können nicht mehr von einer hohen Bereitschaft des Personals ausgehen, sich unfreundlichen Bedingungen (Schichtdienste, KITA-unfreundliche Arbeitszeiten, geringe Flexibilität, hierarchische Führungsformen, viel Kontrolle etc.) anzupassen.

Die Medizin ist mehr denn je mit individuellen Erwartungen konfrontiert.

Wie können wir damit umgehen? Diese Frage soll in einem zweiten von «Welche Ärzt*innen braucht es in Zukunft?» beantworten werden.

Gesundheitsorganisationen erfolgreich steuern

Fachkräftemangel und Kostendruck setzen medizinische Organisationen unter Druck und sorgen für Stress. Zugleich müssen sie mit den Innovationen aus der medizinischen Forschung mithalten können. Im CAS Managing Medicine lernen Sie, wie Sie Gesundheitsorganisationen unter diesen Bedingungen erfolgreich leiten und steuern.

Foto von Erik Mclean auf Unsplash

Literatur

  1. Berchtold P, Gedamke S, Schmitz C: “Quality through patients’ eyes”. 2020. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/versicherungen/krankenversicherung/qualitaetsentwicklung-schweiz.html . Letzter Zugriff: 21.09.2022.
  2. www.republik.ch, Auf lange Sicht. Wo sind alle hin? 11.7.22. Letzter Zugriff: 18.09.2022.
  3. Baecker D: Corona XXXII: Keine Rechnung ohne Gesellschaft. https://kure.hypotheses.org/category/kontingenz, 30.8.2022. Letzter Zugriff: 21.09.2022.