Bridging Crises: Das «neue Normal» des Gesundheitssystems (Teil 1)

Der Corona-Lockdown wird zurück-, die Gesellschaft wieder «hochgefahren». Eine neue Phase dieser Pandemie ist eingeläutet. Eine Phase, von der wir alle nicht wissen, was sie bringen wird. Klar ist nur, dass mit der teilweisen Öffnung nicht ein «Normal», sondern ein «neues Normal» Einzug hält – auch im Gesundheitsbereich. Welche Erfahrungen aus der Krise werden das «neue Normal» mitbeeinflussen? Wir stellen unsere Überlegungen zur Diskussion.

Was wird das «neue Normal» im Gesundheitssystem sein und wird dieses auch zu einem langfristigen «anderen Normal» werden? Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen, wie ein bekanntes Bonmot festhält. Was wir aber können, ist wichtige Erfahrungen aus der Krise festzuhalten, die Hinweise für Zukünftiges sein könnten. Wir notieren einige diese Erfahrungen. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, was davon im Lärm der neuen Normalität in Vergessenheit geraten und was wirklich Spuren hinterlassen wird.

Einer Überlegung Henry Mintzberg’s folgend unterscheiden wir dabei Erfahrungen für die vier verschiedenen Kulturen des Gesundheitssystems:

  • «cure» (Behandlung)
  • «care» (Betreuung)
  • «control» (Management)
  • «community» (Werte, Gesellschaft /Politik)

Die Aufzählung beansprucht keine Vollständigkeit und ihre Reihenfolge keine Priorisierung, sondern möchte mögliche Spuren ins «neue Normal» notieren – aus unserer Sicht.

Welche Erfahrungen aus der Krise enthalten wertvolle Hinweise für Zukünftiges?

Wir starten heute mit «cure» und «care»:

Cure/Behandlung:

  • Vom Patienten zur Population: Mit dem SARS-2-Virus mussten sich die Spitäler von der Versorgung einzelner Patienten auf die Versorgung der Population rückbesinnen und reorganisieren. Das mittlerweile berühmt gewordene Bergamo-Paper hatte das früh auf den Punkt gebracht: Nicht der einzelne Patient mit seinen Präferenzen stand im Vordergrund, sondern die Versorgung der Bevölkerung insgesamt. Das bedeutete einen wesentlichen Orientierungswandel.
  • Neue Prestige-Hierarchie: Intensivmediziner, Virologen und Epidemiologen haben an Bedeutung gewonnen und sind in der Prestige-Hierarchie der Medizin einige Plätze nach vorne gerutscht. Gleichzeitig sind elektive Chirurgen und Operationssäle (noch) nicht ausgelastet und bangen um ihre Bedeutung.
  • Professionelle Zusammenarbeit sichtbar gemacht: In den Spitälern konnte so klar wie selten beobachtet werden, wo und mit wem Zusammenarbeit gut funktioniert, wo selbst in der Krise einzelne Akteure noch Ego-Kreise drehten. Und wer sich «professionell», also weder pseudo-heroisch noch unerwartet ängstlich, verhielt.
  • Erhöhtes Veränderungstempo: Während der Krise wurden innerhalb unglaublich kurzer Zeit weitreichende Veränderungen implementiert. Was sonst monatelang in unfruchtbaren Diskussionen versandete, konnte nun in Wochen-, wenn nicht Tagesfrist umgesetzt werden. Dieses Tempo, das plötzlich möglich war, hat viele beeindruckt. Ebenso, dass Menschen sich mit ihren persönlichen Stärken einbrachten und so sichtbar wurden. Diese Leistungen zeigten sich als enorm hilfreich.
  • Das Leben neben dem Job: Nicht wenige der Vielarbeitenden in der Medizin dürfen infolge der Still-Legung ihrer Kliniken erleben, dass es ein Leben neben permanenter 12 bis 14 Stunden-Tage gibt – und dass dieses Leben seine Reize birgt. Gleichzeitig erfahren aber auch viele Mitarbeitende, was es heisst, in Kurzarbeit und in Unsicherheit am Arbeitsplatz zu leben.

Es ist plötzlich sichtbar geworden, was möglich wäre.

Care/Betreuung:

  • Wiederentdeckte Wertschätzung: Die Pflege ist zurückgekehrt in den Blick der Gesellschaft. Der Applaus von den Balkonen galt stark der Pflege. Nun entdeckt die Gesellschaft wieder, wie essentiell die Betreuung für eine erfolgreiche Versorgung ist, und dass die Wertschätzung dafür mancherorts prekär ist.
  • Die Stimme der Pflegenden wird lauter: «Stell dir vor, du brauchst Pflege und niemand ist da»: Die Pflegeverbände fordern lautstark Taten statt Worte in überfälligen Anliegen. Gleichzeitig sehen sich die Pflegenden an der Front mit der Forderung ihrer arbeitgebenden Spitäler konfrontiert, die Lockdown-bedingten Arbeitsausfälle kompensieren zu müssen. Schmerzlich dabei ist, dass kaum eine Stimme der Pflegeleitenden der Spitäler hörbar ist.
  • Verbesserung in der interprofessionellen Zusammenarbeit: Die interprofessionelle Zusammenarbeit mit den Ärzten hat sich in der Krisenzeit vielerorts verbessert beziehungsweise intensiviert. Zu erfahren war dabei, welche Unterschiede erfolgreiche Zusammenarbeit machen kann, und was dadurch möglich werden kann.

Welche Unterschiede interprofessionelle Zusammenarbeit machen kann? Plötzlich erkennbar.

Das sind einige der wichtigen Erfahrungen, die gemacht wurden in den letzten Wochen. Was wird in Erinnerung bleiben, was wird Spuren hinterlassen? Was meinen Sie?
In den nächsten Tagen folgen unsere Beobachtungen zu den zwei Bereichen «control» und «community».