Prävention, Politik und der „Nanny-Staat“ – was auf uns zukommt
Jüngst berichtete die NZZ1, dass eine Mehrheit der Bevölkerung mehr Prävention wünscht. Gleichzeitig warnen Kritiker vor einem „Nanny-Staat“. Bemerkenswert ist: Sowohl der dieses Frühjahr beendete Bevölkerungsrat2 wie auch wiederholte Umfragen bestätigen dieses Präventionsinteresse. Trotzdem wird das Thema im politischen Diskurs oft als Projektionsfläche genutzt – etwa von Akteuren, die sich mit libertären Parolen gegen staatliche Eingriffe profilieren wollen.
Die eigentliche Frage lautet: Warum klafft zwischen den Anliegen der Bevölkerung und dem politischen Diskurs eine so grosse Lücke – und welche Rolle wird dieses Spannungsverhältnis künftig spielen?
Was will das „Volk“?
Die Bevölkerung (die Gesellschaft, das Volk, …) ist kein einheitliches Gebilde, sondern ein Mosaik aus unterschiedlichsten Erwartungen und Interessen. Ärztinnen und Ärzte erleben das täglich im Gespräch mit ihren Patient:innen. Das Besondere demokratischer Systeme ist, dass sie diese Vielfalt nicht glätten, sondern in politische Entscheidungen übersetzen.
Nachdem Politik auch ihren Eigengesetzlichkeiten folgt, bleibt die Frage der Repräsentation der Anliegen der Bevölkerung eine ständig mitlaufende. Die Gefahr besteht, dass politische Entscheidungen an den Lebensrealitäten vieler Menschen vorbeigehen. Das sogenannte Repräsentationsproblem.
Sachpolitik vs. politischer Diskurs
Gesundheitspolitik ist Sachpolitik. Sie betrifft konkrete Fragen wie Versorgungsplanung, Finanzierung, Qualitätssicherung oder Seuchenschutz. Sie ist eingebettet und beeinflusst durch den politischen Diskurs, den Kampf um Deutungen: Welche Themen gelten als relevant? Wie werden sie moralisch gerahmt? Welche Werte setzen die Prioritäten?
Ohne diesen Diskurs ist Sachpolitik blind – doch wenn der Diskurs von Schlagworten und übergeordneten Politagenden dominiert wird und sich zu weit von den Lebensrealitäten der Menschen entfernt, bleibt Sachpolitik blockiert.
Lektion aus dem KVG
Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) von 1996 ist ein Lehrstück: Es wurde stark vom neoliberalen Geist der 1990er geprägt – Wettbewerb, Marktlogik, individuelle Verantwortung. Darum zahlen wir heute Kopfprämien statt einkommensabhängiger Beiträge. Bis heute drehen sich die Debatten primär um Kosten, weniger um Werte und Ziele. Die Folge: Die Anliegen der Bevölkerung werden nur teilweise getroffen.
Bis heute wird primär über Kosten debattiert.
Prävention als Prüfstein
Wenn Bürger:innen sich in deliberativen, also sorgfältig abwägenden Verfahren mit Gesundheitskosten befassen, fordern sie ein Gesundheitsgesetz und setzen klar auf Prävention. Das sind die Ergebnisse des Bevölkerungsrates2. Damit stehen sie quer zu einem politischen Diskurs, der staatliches Handeln kleinhalten will – und auch quer zu einer Ärzteschaft, die Prävention traditionell nicht als Kernaufgabe versteht.
Ein neuer Diskurs ist fällig
Dass ein politisch agierender Akteur vor einem „Nanny-Staat“ warnt (und von der NZZ zitiert wird), zeigt: Gesundheitspolitik droht zum politischen Kampffeld zu werden. In einer Zeit multipler Krisen wird entscheidend sein, ob wir eine evidenzbasierte, sachliche Debatte führen können, die die Anliegen der Bevölkerung ernst nimmt – oder ob Gesundheit zum Spielball politischer Machtkämpfe wird.
Gesundheitspolitik droht zum politischen Kampffeld zu werden.
Ein neuer Diskurs, der die Anliegen der Bevölkerung ernst nimmt, wäre fällig.
Die Rolle der Ärzteschaft
1996 war die Ärzteschaft beim KVG primär mit Abwehrkämpfen beschäftigt. Auch heute, 30 Jahre später, prägt vielfach das Gefühl des Autonomieverlustes. Eine Ausnahme ist die Initiative der SAMW für eine neues Gesundheitsgesetz. Wer nur Besitzstände verteidigt, verpasst die Chance, den Diskurs aktiv zu gestalten.
Die Frage ist daher: Können sich Akteure des Gesundheitssystem wie die Ärzteschaft im neuen gesundheitspolitischen Diskurs als Stimme für Prävention, Versorgungssicherheit und die Anliegen der Patient:innen positionieren? Oder verbleiben sich im Ringen um «Besitzstandswahrung»?
Foto von Vitalii Pavlyshynets auf Unsplash
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1 Die Leute gesund halten, statt sie zu reparieren. Eine Mehrheit will mehr Prävention im Schweizer Gesundheitssystem, doch Kritiker warnen vor dem Nanny-Staat. Simon Hehli, NZZ, 25.8.2025
2 https://www.pnyx25.uzh.ch/de.html
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