Im Schweizer Gesundheitswesen scheinen die Debatte festgefahren: Seit Jahren dominieren dieselben Argumente. Umso spannender, was der Bevölkerungsrat 2025 (1) ans Licht bringt: 100 zufällig ausgewählte Bürger:innen haben sich fundiert mit den Gesundheitskosten befasst – und schlagen mehr Zentralisierung, stärkere Prävention und neue Regulierungen vor. Also genau das, was viele Schweizer Experten nahezu reflexartig ablehnen.

Die Reaktionen von Experten sprechen Bände: Unterstellt werden Unwissen oder gar Manipulation. Selbstkritik an der eigenen Perspektive? Fehlanzeige. Dabei zeigt der Bevölkerungsrat vor allem eines: Bürger:innen denken mit – und artikulieren ihre Perspektive. Die wird dringend gebraucht. Denn die ewige Wiederholung altbekannter Mythen bringt uns keinen Schritt weiter. 

Mythen im System – die ewige Wiederkehr des Gleichen

Das Gesundheitssystem ist nicht nur komplex, sondern auch ein Dauerbrenner für Reformdebatten. Auffällig dabei: Es sind fast immer die gleichen Argumente, die ins Feld geführt werden – oft verpackt in sogenannte «Mythen». Diese wiederkehrenden Erzählungen transportieren bestimmte Weltbilder und wirken identitätsstiftend. In Anlehnung an Friedrich Nietzsche könnte man von der «ewigen Wiederkehr des Gleichen» sprechen.

Solche Narrative haben eine Funktion: Sie zementieren den Status quo. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür bietet die Reaktion zweier Stimmen im schweizerischen gesundheitspolitischen Diskurs – Felix Schneuwly (Comparis) und Fridolin Marty (Economiesuisse) (2) – auf die Ergebnisse des Bevölkerungsrates 2025. Das Projekt der Universitäten Zürich und Genf und des Demokratiezentrums Aarau brachte 100 zufällig ausgewählte Bürger:innen zusammen, die gemeinsam zentrale Herausforderungen im Gesundheitswesen diskutierten. Bereits die Themenwahl – die Gesundheitskosten – zeigt, wie sehr das Thema den Alltag berührt.

Der Rat entwickelte konkrete Vorschläge: ein nationales Gesetz Gesundheit, mehr zentrale Steuerung, eine stärkere Rolle der Prävention und gezielte Regulierung zur Kostendämpfung.

Empörung 

Die Reaktion Schneuwlys: Unverständnis. Seine beinahe fassungslos wirkende Frage:
«Wie ist es möglich, dass ein repräsentativ zusammengesetzter Bevölkerungsrat […] zum Schluss kommt, dass wir im Gesundheitswesen mehr Zentralisierung, mehr Zwangsabgaben für Gesundheitsförderungskampagnen und mehr Verbote gegen steigende Gesundheitskosten brauchen?»

Seine Schlussfolgerung: Entweder habe die Bevölkerung das System nicht verstanden – oder der Prozess sei manipuliert worden. Auch Marty spricht pauschal von «Unwissen» und vermutet eine linke Schlagseite.

Dass Bürger:innen zu anderen Ergebnissen kommen als Experten, führt nicht zur Selbstreflexion – sondern zu Abwehr, Abwertung und Rückzug. Schneuwly kündigt gar an, sich künftig nicht mehr an Bevölkerungsräten zu beteiligen. Ein anderer Experte zieht sich ebenfalls per Leserbrief zurück. Wie ist das zu verstehen? Diese Reaktionen deuten auf Tieferliegendes hin: das Infragestellen eines lang gepflegten Deutungsmonopols.

Angriff auf gewohnte Erzählungen

Der Bevölkerungsrat hat offenbar etablierte Narrative irritiert. Er stellt die Deutungshoheit jener infrage, die seit Jahren den gesundheitspolitischen Diskurs prägen. Besonders bemerkenswert: Der Rat betrachtet Gesundheit nicht primär als ökonomisches Geschehen, sondern als gesellschaftliches Gut – und rückt Prävention ins Zentrum. Damit widerspricht er einem zentralen CH-Mythos: dass der Markt alle Probleme löse und ökonomische Effizienz das oberste Ziel sei.

Weniger Mythen, mehr Offenheit

Was die Reaktionen zeigen: Es geht nicht nur um Sachfragen, sondern auch um Deutungshoheiten und Positionsbehauptungen – die wundersam zum Status quo beitragen … Der Bevölkerungsrat setzt hier einen Kontrapunkt – mit Bürger:innen, die sich jenseits eingefahrener Expertendiskurse Gedanken über das Gemeinwohl machen.

Der Debatte über die Zukunft des Schweizer Gesundheitssystems tut es gut, neue Perspektiven zuzulassen – gerade auch aus der Bevölkerung. Der Bevölkerungsrat hat vorgemacht, wie das aussehen kann. Gut so.

1) Bevölkerungsrat: https://www.pnyx25.uzh.ch/de.html

2) https://www.medinside.ch/gesundheitspolitik-bevoelkerungsrat-versus-direkte-demokratie-20250422; https://www.linkedin.com/posts/fridolin-marty_bevölkerungsrates-activity-7318558560303407105-T5X2/?originalSubdomain=de

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